Earth4All | Germany

Zentrale Aussagen

Ein schneller Wandel zum Positiven ist möglich: Die Analysen der Autor*innen zeigen, dass sich die über 150 Jahre Industriegeschichte in Deutschland etablierten fossilen und ressourcenverbrauchenden Strukturen innerhalb der nächsten 25 Jahre in eine klimaneutrale und weitgehend auf Kreislaufwirtschaft fußende Gesellschaft überführen lassen.

Grenzenloses Wirtschaftswachstum auf einem begrenzten Planeten ist unmöglich – und schon deshalb kein Maßstab für Lebensqualität und Gutes Leben. Stattdessen ist im Sinne einer „Wohlergehensgesellschaft“ gesellschaftliches Wohlergehen für alle innerhalb planetarer Grenzen das zentrale Ziel.

Eine ökologische Transformation ohne Abbau der sozialen Ungleichheit wird scheitern. Klimapolitik kann Sozialpolitik nicht ersetzen. Klimapolitik muss aber so ausgestaltet sein, dass sie die soziale Ungleichheit keinesfalls verschärft, sonst droht eine Blockade der ökologischen Wende. Der Schutz des Klimas und der Ökosysteme lässt sich nur mit einer gleichzeitigen deutlichen Reduzierung von Ungleichheit und einer Bekämpfung von Armut erreichen. Grundvoraussetzung für alle Wenden ist daher insbesondere eine gerechtere Steuer- und Sozialpolitik.

Verschiedene Bereiche gleichzeitig zu transformieren ist einfacher als jeden einzeln: Alle fünf Wenden beeinflussen sich gegenseitig. Es ist leichter, effektiver, kostengünstiger und erfolgversprechender, sie gemeinsam und zügig umzusetzen statt nacheinander. Dies erfordert Politikintegration statt isolierter Maßnahmen einzelner Ressorts sowie Zusammenarbeit statt Abschottung – nur so lassen sich Synergieeffekte heben.

Technik allein ist nicht die Lösung für alle Herausforderungen: Effizienz und erneuerbareEnergien sind zentrale Strategien, deren Umsetzungsgeschwindigkeiten drastisch erhöht werden müssen. Sie sind aber auch mit Herausforderungen wie etwa Flächenverbrauch verbunden. Entsprechend bedarf es ergänzend auch maßvoller Lebensstile (Suffizienz), einer Begrenzung des Luxuskonsums und eines grundlegenden Paradigmenwechsels in Richtung des sparsamen Umgangs mit Ressourcen und Energie. Es geht dabei nicht um eine generelle Einschränkung von Bedürfnissen, sondern um Verantwortung und eine gerechtere Verteilung der verfügbaren Ressourcen – und damit ein besseres Leben für alle. Solche Veränderungen sind mehrheitsfähig. Nachhaltiges Verhalten muss dafür aber allen ermöglicht werden – es braucht dafür eine Ermöglichungskultur.

Die notwendigen Transformationsprozesse sind nur gemeinsam und mit Unterstützung aller umsetzbar. Unsere Demokratie muss dafür gestärkt werden und Aushandlungsprozesse ermöglichen: Dazu bedarf es einer Verstärkung der Selbstwirksamkeit (Empowerment), insbesondere von Frauen und Jugendlichen, deren Rechte und Bedürfnisse noch zu wenig Gehör finden. Eine Transformation mit vielen Verlierer*innen gefährdet die Demokratie. Durch breite Partizipation, Zukunftsdialoge auf allen Ebenen, Bürger*innenräten und einer stärker demokratisierten Wirtschaft kann es gelingen, gesellschaftliche Gräben zu schließen.

Mutige Zukunftsinvestitionen sind durchaus finanzierbar: Ein integrativer, ganzheitlicher Transformationsansatz erfordert erhebliche Zukunftsinvestitionen. Ein konsequenter Abbau klimaschädlicher Subventionen, ein progressiver Finanzierungsbeitrag der Reichen als auch Reformen der Staatsfinanzen wie die Anpassung der Schuldenbremse machen dafür Gelder frei, sind sozial gerecht und wenden zugleich exorbitante zukünftige Schadens- und Anpassungskosten ab.

Deutschland muss mehr Verantwortung übernehmen: Als führende Industrienation trägt Deutschland eine besondere Verantwortung. Durch mutige Schritte kann Deutschland bereits bestehende Ansatzpunkte für global positive Veränderungen verstärken und eine Vorreiterrolle einnehmen. Gleichzeitig muss Deutschland besser verstehen lernen, welche Implikationen das eigene Transformationshandeln global hat, und negative Folgen abpuffern. Dies schafft die Grundlage für eine globale Wohlergehensgesellschaft.

Die Initiative: Earth4All

Earth4All ist eine internationale Initiative, die untersucht, wie Wohlergehen für alle innerhalb der planetaren Grenzen unseres Planeten in diesem Jahrhundert erreicht werden kann. Sie wurde 2020 vom Club of Rome, der Norwegian Business School, dem Stockholm Resilience Centre und dem Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung ins Leben gerufen.

Das langfristige Ziel von Earth4All ist ein neues Wirtschaftsparadigma, das Wohlstand für alle Menschen innerhalb der planetaren Grenzen ermöglicht. Earth4All erstellt dafür Analysen, die Wirtschaft, Umwelt und Gesellschaft konsequent miteinander verbinden. Diese ermöglichen die Identifizierung von politischen Maßnahmen, die das Potenzial haben, die Polykrisen unserer Zeit gleichzeitig zu adressieren und durch integrative Ansätze Synergien zu erschließen. Um sicherzustellen, dass diese Erkenntnisse partizipativ sind, ist das Earth4All-Team international aufgebaut und arbeitet mit Bürgerbeteiligung, Kampagnen und einer breiten Kommunikation. Denn eine gesellschaftliche Transformation kann nur gelingen, wenn die Öffentlichkeit an der Gestaltung der gemeinsamen Zukunft beteiligt wird.

Earth4All stützt sich auf systemdynamische Modelle und eine „Transformational Economics Commission“, die sich aus Wirtschaftsexpert*innen aus der ganzen Welt zusammensetzt. Zu den Mitgliedern gehören unter anderem Kate Raworth, Jayati Ghosh und Ernst Ulrich von Weizsäcker.

Im September 2022 – 50 Jahre nach der Veröffentlichung von „Die Grenzen des Wachstums“, veröffentlichte Earth4All nach zweijähriger Forschung das Buch „Earth for All: Ein Survival Guide für unseren Planeten“, das zentrale Forschungsergebnisse für die breite Öffentlichkeit zugänglich macht. Das Buch präsentiert einen realistischen Weg für einen Systemwandel, indem es fünf notwendige Kehrtwenden und entsprechende politische Maßnahmen vorstellt:

Das Buch wurde bisher in zehn Sprachen übersetzt und weltweit rund 80.000 Mal verkauft.

Earth4All setzt sich aktiv für die Umsetzung der identifizierten politischen Lösungen ein. Dazu gehört die globale Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen wie den Vereinten Nationen, die Einbindung von Bürger*innen weltweit durch Jugendforen oder Versammlungen und die Durchführung von Umfragen, um die Einstellung zum Wandel des Wirtschaftssystems sowie die Anpassung von Earth4All-Initiativen an lokale Gegebenheiten zu ermitteln. Neben Deutschland ist Earth4All momentan in Österreich, Kenia und Argentinien engagiert; weitere Länder sind geplant.

Earth for All Deutschland

Das Wuppertal Institut ist wissenschaftlicher Partner und Koordinator der Umsetzungsstrategie von Earth4All in Deutschland. Earth4All Deutschland übernimmt die grundlegende Logik und Struktur und wendet sie auf die spezifischen Herausforderungen in Deutschland an. Dies schließt die Diskussion von Deutschlands Verantwortung in der Welt ebenso ein wie die Erkundung der Folgen eines Transformationsprozesses in Deutschland. Die zentralen Erkenntnisse erscheinen am 14. Oktober 2024 im Buch „Earth for All Deutschland: Aufbruch in eine Zukunft für Alle“.

Das Buch untersucht anhand der fünf Kehrtwenden, wie eine tiefgreifende gesellschaftliche Transformation in Deutschland gelingen kann. Eine zentrale Erkenntnis ist, dass ein solcher Sprung nur im Zusammenspiel aller Wenden möglich ist, die durch ambitionierte politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen unterstützt werden müssen.

Ebenso wie in der globalen Analyse werden auch für Deutschland zwei Zukunftsszenarien unterschieden:

Too Little Too Late

(„Zu wenig, zu spät“):

In diesem Szenario wird der derzeit eingeschlagene Weg der wirtschaftlichen Entwicklung, der auf nicht nachhaltigen Produktionsstrukturen und Konsummuster beruht, fortgesetzt. Die Auswertung zeigt, dass ein derartiges „Weiter so“ Ungleichheiten verstärkt und der Klimakrise nicht genug entgegensetzen kann, um ihre dramatischen Folgen zu verhindern.

Giant Leap

(„Großer Sprung“):

In diesem Szenario treffen Gesellschaft, Politik und Wirtschaft mutige Entscheidungen und tätigen Investitionen, die den sozialen Zusammenhalt stärken, Vertrauen aufbauen, Armut national wie global verringern, Ernährungs- und Energiesysteme nachhaltig umgestalten und ein Wirtschaftssystem etablieren, das das Wohlergehen aller auf einem begrenzten Planeten zum Ziel hat. Earth for All nennt dies eine „Well-Being Society“ – Wohlergehensgesellschaft.

Um die positive Vision eines „großen Sprungs“ zur Wohlergehensgesellschaft umzusetzen, müssen mehrere politische Strategien gut aufeinander abgestimmt und gleichzeitig implementiert werden. Das ist alles andere als einfach, aber es lohnt sich. Dazu bedarf es auch in Deutschland der fünf oben genannten Kehrtwenden.
Aufgrund der besonderen Rahmenbedingungen in einem ressourcenintensiven Industrieland wie Deutschland müssen diese fünf Kehrtwenden mit einem wirtschaftlichen Systemwandel, der besonders auch die Ressourcenfrage (zirkuläre Ökonomie) berücksichtigt, verbunden werden. Der ökologische Fußabdruck Deutschlands in der Welt kann durch Strategien einer Kreislaufwirtschaft deutlich reduziert werden, wodurch sich auch leichter ambitionierte Klimaschutzziele erreichen ließen.
Das Buch versteht sich nicht als allumfassende Handlungsanleitung, sondern zeigt mögliche Wege für eine sozial-ökologische Transformation auf, die mit einer breiten gesellschaftlichen Akzeptanz rechnen kann. Es ist eine Einladung zu einem gesellschaftlichen Dialog über die Zukunft Deutschlands. Das Buch stellt damit den Auftakt für Diskussionen mit Bürger*innen und Interessenvertreter*innen dar, welche in einer Folgephase geplant sind. Diese weitere Phase zielt darauf ab, mehr Menschen zu erreichen und integrative Dialoge zu fördern, um sicherzustellen, dass jede und jeder Teil der Entwicklung einer gemeinsamen Zukunftsvision sein kann.

Fünf Wenden für Deutschland

Unsere Art zu wirtschaften hat in den vergangenen Jahrzehnten zweifelsohne zu einem erhöhten Wohlstandsniveau in Deutschland geführt, allerdings auch zu einer ungleicheren Verteilung von Wohlstand und einem hohen Ressourcenverbrauch. Ein einfaches „Weiter so“ stößt an seine natürlichen und sozialen Grenzen. Es braucht daher grundlegende Änderungen.

Unsere Wirtschaftsform hat dazu geführt, dass die öffentlichen Infrastrukturen vernachlässigt wurden und der soziale Zusammenhalt sich zunehmend auflöst. Die ökologischen Herausforderungen wurden in der Vergangenheit zwar teilweise aufgegriffen und es konnten echte Erfolge gefeiert werden. Dennoch leben wir nach wie vor weit über unsere Verhältnisse, was die planetaren Grenzen angeht. Ein „Weiter so“ wie bisher darf es daher nicht geben.

Ziel guter Politik und guten Wirtschaftens muss es sein, dafür zu sorgen, dass auch zukünftig genug sauberes Wasser zum Trinken, saubere Luft zum Atmen, ein verträgliches Klima und Lebensmittel für eine gesunde Ernährung vorhanden sind. Schaffen wir es, unsere natürlichen Lebensgrundlagen zu erhalten, profitieren alle davon. Von einer Ausbeutung profitieren hingegen kurzfristig wenige und langfristig niemand.

Neben der ökologischen Frage müssen wir heute mehr denn je die sozialen Auswirkungen in den Blick nehmen. Der Zugang zu den Grundbedürfnissen menschlichen Daseins darf nicht vom Geldbeutel der Haushalte abhängen, sondern muss für alle Menschen garantiert sein. Komplexe Fragestellungen werden im politischen Raum gelegentlich mit einfachen Lösungen beantwortet. Vereinfachung bietet vielen Menschen Orientierung, was leider allzu oft durch organisierte Fehlinformation missbraucht wird. Wir wollen daher verständlich, aber wissenschaftlich fundiert gegen derartige Fehlinformationen halten und deutlich darstellen, worum es geht: Es geht uns um den Erhalt unserer gemeinsamen Lebensgrundlagen und um einen Aufbruch zur Sicherung unseres sozialen Miteinanders. Es geht um unser aller Gesundheit und unser aller Wohlergehen. Das alles steht auf dem Spiel, wenn wir weitermachen wie bisher oder gar die Zeit ins fossile Energiezeitalter zurückdrehen. Mit einem Giant Leap lässt sich dagegen eine weitere Zuspitzung der aktuellen Polykrise verhindern. Es ist möglich, Deutschland zukunftsfest und lebenswert zu gestalten.

Wir wollen daher kein apokalyptisches Bild einer Weltuntergangsgesellschaft zeichnen. Die Analysen der Autor*innen belegen vielmehr, dass es sich lohnt, einen radikalen Kurswechsel der Veränderung zu vollziehen. Eine tiefgehende gesellschaftliche Transformation ist nicht nur nötig, um aus Deutschland einen substantiellen Beitrag gegen die Vielzahl globaler Krisen zu leisten. Die Transformation ist viel mehr Chance als Pflicht: Sie ermöglicht uns, Wohlergehen, Gesundheit, Sicherheit und Demokratie für jetzige und zukünftige Generationen in Deutschland zu sichern. Mit einer gefestigten und starken Zivilgesellschaft, mit Gewerkschaften, die die Rechte von Arbeitnehmer*innen kraftvoll vertreten können, mit Unternehmer*innen, die gesellschaftliche Verantwortung übernehmen und mit Politiker*innen, die mutig eine gute Zukunft gestalten wollen.

“Die Autor*innen wollen mit ihrem Buch “Earth for All Deutschland Mut machen, um – mit den Worten von Bertolt Brecht – „endlich unserer Kraft zu trauen und ein schöneres Leben aufzubauen“.

Armutswende

Aus gutem Grund lautet das erste der 17 globalen Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals): „Armut in jeder Form und überall beenden“. Die Abwesenheit von Armut ist die grundlegende Voraussetzung, um andere zentrale Nachhaltigkeitsziele zu erreichen. Obwohl die extreme Armut in den vergangenen fünfzig Jahren weltweit deutlich zurückgegangen ist, stieg sie infolge sich überlagernder globaler Krisen in den vergangenen Jahren wieder an. Derzeit leben rund 700 Millionen Menschen in extremer Armut, das heißt, sie verfügen über weniger als 2,15 US-Dollar pro Tag.

Rasches wirtschaftliches Wachstum in armen Ländern, das nachhaltig und fair ausgerichtet ist, macht eine Überwindung von Armut zwar möglich. Es erfordert jedoch ein neues Wirtschaftsmodell und andere Formen der internationalen Zusammenarbeit. Die aktuellen internationalen Strukturen schränken die politischen Optionen armer Länder stark ein. Das muss sich ändern.

Armut und Abstiegsängste gibt es aber genauso in Deutschland. Zwar sind diese weniger existenziell, aber um eine gerechtere Gesellschaft zu erreichen, sind sie essenziell. Rund jeder Fünfte ist in Deutschland von Armut und damit verbunden auch sozialer Ausgrenzung betroffen – mit steigender Tendenz. Das ist ein Zustand, den wir als reiches Industrieland nicht hinnehmen dürfen, auch weil er die gesellschaftliche Akzeptanz von notwendigen Transformationsprozessen erheblich gefährdet.

 

Lösungsweg 1: Wohlstand global gerecht verteilen

Eine der größten Herausforderungen für Länder des Globalen Südens ist ein zu kleiner finanzieller Handlungsspielraum. Viele arme Länder leiden unter einer massiven Schuldenlast. Offiziell zugesagte Entwicklungshilfen und Transferzahlungen wie die internationale Klimafinanzierung bleiben aus. Stattdessen werden Kredite gewährt, die wachsende Zins- und Tilgungslasten nur in die Zukunft verschieben. Viele Länder des Globalen Südens müssen zwischen Armutsbekämpfung und Klimaschutz wählen – obwohl sie selbst wenig zur globalen ökologischen Krise beigetragen haben und unter ihr mehr leiden als andere.

Deutschland sollte sich daher für politische Veränderungen der internationalen Finanz- und Handelsregelungen einsetzen, die den finanziellen Spielraum für Länder des Globalen Südens erweitern. Dazu gehören die aktive Unterstützung eines Schuldenerlasses für arme Länder, eine Ausweitung des finanziellen Handlungsspielraums durch Sonderziehungsrechte des Internationalen Währungsfonds und der Einsatz für faire internationale Handelsregeln.

Lösungsweg 2: Teilhabe für alle

Zentrale Grundbedürfnisse eines würdevollen Lebens in einer entwickelten Gesellschaft sind in Deutschland vielfach nicht sichergestellt. Zugang zu bezahlbaren klimafreundlichen Strom-, Wärme- und Mobilitätsangeboten sowie zu gesunden Lebensmitteln muss zu einem Markenkern der nationalen Armutsbekämpfung werden.

Dazu bedarf es zielgerichteter Förderprogramme für Haushalte mit geringem Einkommen und erheblicher staatlicher Investitionen in die Verbesserung öffentlicher Infrastrukturen. Der Umbau des Steuer- und Förderregimes ist daher dringend geboten.

Für Transformationsmaßnahmen muss es einen Sozialcheck geben, der notwendige Verbote, Subventionen oder Steuern hinsichtlich ihrer Verteilungswirkungen prüft. Eine bedarfsorientierte und sozial differenzierte Förderung kann finanziert werden, indem vor allem klimaschädliche Subventionen für Reiche auf den Prüfstand gestellt werden.

Sicht- und spürbare Verbesserungen für die Allgemeinheit werden unterstützt, indem sozial orientierte Investitionen in die öffentlichen Energie- und Mobilitätsinfrastrukturen sowie in den Gesundheitssektor priorisiert werden, statt exklusive, nur für wenige zugängliche Förderprogramme.

Lösungsweg 3: Kommunale Infrastrukturen stärken

Vor allem Kommunen mit einer hohen Armutsquote haben nicht die finanziellen Möglichkeiten, für technisch gut ausgestattete, klimafreundliche öffentliche Gebäude mit hohen Effizienzstandards oder hochwertiges Mittagessen in Schulen und Kantinen zu sorgen. Sie können sich öffentliche Schwimmbäder nicht (mehr) leisten und müssen zunehmend Abstriche bei der Finanzierung des sozial- und klimapolitisch unentbehrlichen öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) machen. Kommunen sind zwar die zentralen Akteure der Armutsbekämpfung, sie sind aber vielfach selbst arm. Hier ist eine Reform der Kommunalfinanzen dringend notwendig.

Der Staat muss dafür Sorge tragen, dass seine eigenen Einrichtungen Vor- und Leitbild gesellschaftlicher Transformationsprozesse sind. Ein Fonds zur Ertüchtigung der kommunalen Infrastrukturen ermöglicht es den Kommunen, zentrale Vorhaben der Armutsbekämpfung zu finanzieren, von denen alle etwas haben – zum Beispiel ein guter, leistungsfähiger und komfortabler ÖPNV, attraktive Rad- und Fußwege oder qualitätsvolle Lebensmittel in den Schulkantinen.

Aufgaben der Daseinsvorsorge wieder stärker in den Fokus zu nehmen, schafft breite Akzeptanz für alle herausfordernden Transformationsprozesse. Dies schließt auch Investitionen in kommunale Wärmenetze ein, über die zumindest einer Teil derjenigen Haushalte mit klimaverträglicher Wärme versorgt werden könnten, die aufgrund eines zu geringen Einkommens und fehlenden Kapitals selber nicht die Anforderungen des Gebäudeenergiengesetzes erfüllen können.

Ungleichheitswende

Deutschland ist ein ungleiches Land. Während die reichsten 10 Prozent über 60 Prozent des Vermögens besitzen, haben die unteren 40 Prozent quasi gar keines. Höhere Vermögen bedeutet vielfach auch höhere Einflussmöglichkeiten auf Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Dadurch ist auch die Macht, gesellschaftlich oder politisch etwas zu verändern, extrem ungleich im Land verteilt. Ein hohes Maß an Ungleichheit trägt zu Dysfunktionalitäten sowie einem Erstarken populistischer Bewegungen bei. Darüber hinaus haben Wohlhabende durch höheren Konsum auch eine überproportionale Verantwortung für Treibhausgasemissionen und Ressourcenverbrauch. Im Umkehrschluss bedeutet dies: Wenn alle ein gutes Leben innerhalb der planetaren Grenzen haben sollen, müssen die Ressourcen, die Einkommen und die Vermögen gerechter verteilt werden.

Studien zeigen, dass von mehr Gleichheit nicht nur die Armen profitieren, sondern auch die Wirtschaft und die Reichen selbst. Denn Reichtum basiert nicht zuletzt auf einer stabilen Gesellschaft, auf gut ausgebildeten Fachkräften, auf einer guten Gesundheitsversorgung und einer attraktiven öffentlichen Verkehrsinfrastruktur.

Statt Ausgleichsmechanismen für mehr Gleichheit zu nutzen, gab es in den vergangenen Jahrzehnten allerdings Bestrebungen, diese abzubauen: Eine Vermögensteuer wird nicht mehr erhoben, die Umverteilung über Einkommenssteuern wurde verringert, Kapitaleinkünfte werden mit nur 25 Prozent besteuert (und damit klar besser gestellt als Einkünfte aus Arbeit). Zudem profitieren besonders Wohlhabende von zahlreichen Ausnahmen bei der Erbschaftssteuer. Die momentane Politik in Deutschland lässt keine konsequenten Anstrengungen erkennen, Ungleichheit zu reduzieren.

Ein Umsteuern auf diesem Gebiet ist auch deshalb zentral, weil die Finanzierung aller Wenden nur dann möglich ist, wenn sich die Reichen mit ihren großen Vermögen an den notwendigen Investitionen in die Zukunft angemessen beteiligen.

Lösungsweg 1: Reiche stärker besteuern

Deutschland ist zwar ein Hochsteuerland in Bezug auf Einkommen, aber ein Niedrigsteuerland bei Vermögen – was Vermögenskonzentration und Ungleichheit reproduziert und verschärft. Die genaue Ausgestaltung eines gerechteren Steuersystems obliegt einer politischen Entscheidung und will gut abgewogen werden. Verschiedene Möglichkeiten dazu liegen auf dem Tisch: Die Wiedereinführung der Vermögenssteuer, der Abbau von Ausnahmeregelungen bei der Erbschaftssteuer sowie eine Finanztransaktionssteuer. Zu den Optionen gehört auch eine einmalige substanzielle Vermögensabgabe als schnell wirkender Lastenausgleich. Er würde der Dringlichkeit der Lage gerecht werden, denn mit dem Geld ließe sich ein Sondervermögen für Klimaschutz und Transformation aufbauen. Ebenso wichtig ist es, die vielfältigen legalen oder halblegalen Steuerschlupflöcher zu schließen – egal, ob es dabei um Ausnahmen bei der Erbschaftssteuer geht oder um undurchsichtige Firmenkonstrukte als Grundlage für eine Steuerflucht ins Ausland.

Lösungsweg 2: „Klimageld Plus“

Es ist essenziell, insbesondere finanziell schlechter gestellte Menschen durch den klimarelevanten Umbau nicht noch mehr zu belasten – ein „Klimageld Plus“ als Kompensation der regressiven Belastung durch die CO2-Bepreisung bietet hierzu eine Möglichkeit.

Die Internalisierung von extern verursachten Umweltkosten durch den Emissionshandel kann vorteilhafte Wirkungen nicht nur in Bezug auf die Verteuerung umweltschädlicher Produkte haben, sondern bei richtiger Ausgestaltung auch eine positive Verteilungswirkung.

Eine pauschale Ausschüttung pro Kopf kann dabei aber nur einen Teil der finanziellen Belastungen kompensieren, die durch die Transformation entstehen. Gerade für die besonders betroffenen Haushalte, die sich nicht aus eigener Kraft anpassen können, braucht esneue (disruptive) Politikansätze. Denn weder das Klimageld noch eine Bereitstellung von Fördermitteln allein sind ausreichend, sondern es bedarf ganzheitlicher Unterstützungspakete.

Lösungsweg 3: Gleichheitsfördernde Wirtschaftsformen

Ungleichheit lässt sich auch abbauen, indem wir eine gerechtere Wirtschaft stärken. Die Umverteilungstendenzen eines weitgehend unregulierten Kapitalismus von unten nach oben müssen eingeschränkt werden. Möglich wird dies beispielsweise durch die Förderung von Sozialunternehmen, die soziale Ziele statt Gewinn in den Fokus stellen, und anderen Rechtsformen, die Verantwortungseigentum vor maximales Gewinnstreben setzen, oder eine sozial-ökologische Stärkung der Sharing Economy. Eine zentrale Rolle bei der Gestaltung spielen die Gewerkschaften.

Empowermentwende

Eine nachhaltige „Erde für alle“ erreichen wir nur, wenn wirklich alle an ihrer Gestaltung mitwirken können. Empowerment bedeutet die Stärkung der Selbstwirksamkeit für alle Menschen einer Gesellschaft – hier (wie auch in der globalen Initiative Earth4All) vor allem die Stärkung von Frauen. Geschlechtergerechtigkeit ist in Deutschland trotz aller unbestreitbaren Fortschritte noch nicht erreicht. Für die Welt von morgen ist sie aber unverzichtbar. Denn Frauen sind oft Promotor*innen sozialer Veränderungen, deren Potenziale in allen Bereichen gebraucht werden, um die Transformationen hin zu einer sicheren und gerechten Welt zu schaffen.

Damit diese Potenziale genutzt werden können, müssen Rahmenbedingungen geschaffen werden, die dies ermöglichen. Wesentliche Handlungsfelder in Deutschland sind dafür das Ende von Gewalt und Sexismus sowie die Überwindung von sich über Jahrzehnte verfestigten Strukturen, die heute noch die gleichberechtigte Entfaltung von Frauen einschränken. Dazu gehören beispielsweise die ungleiche Entlohnung und die damit verbundene unzureichende finanzielle Absicherung im Erwerbsleben und im Alter, die ungenügende Vertretung in politischen Ämtern und Führungspositionen sowie ungleiche Möglichkeiten der individuellen Zeiteinteilung und eine fehlende faire Verteilung von Sorgearbeit. Viele der bestehenden Problemfelder sind auf strukturelle Ungleichheiten zurückzuführen, die sich gegenseitig bedingen und verstärken. Es bedarf daher einer umfassenden Empowermentwende, um diese Zusammenhänge aufzubrechen und geschlechtergerechte gesellschaftliche Strukturen zu schaffen.

 

Lösungsweg 1: Weibliche Selbstwirksamkeit stärken

Deutschland benötigt eine konsequente Verbesserung der Rahmenbedingungen für Frauen in allen gesellschaftlichen Bereichen. Dazu bedarf es einer Stärkung von Frauen in politischen Ämtern und in Führungspositionen von Unternehmen und Verwaltungen. Darüber hinaus muss Gewalt gegen Frauen reduziert werden, indem Präventionsmaßnahmen ausgebaut werden und eine Nulltoleranzpolitik konsequent durchgesetzt wird.

Lösungsweg 2: Funktionierendes Sorgesystem

Durch die Entlastung von Familien und der gleichen Verteilung der Sorgearbeit werden strukturelle Ungleichheiten abgebaut. Dazu braucht es verlässliche und lückenlose Betreuungsangebote sowie eine stärkere Übernahme von Sorgearbeit durch Männer. Eine mögliche unterstützende Maßnahme ist hierbei die Verkürzung der Arbeitszeit für alle: Durch flexible Arbeitsbedingungen und Arbeitszeitmodelle hätten so alle Menschen in Deutschland mehr Zeit für sich und andere und könnten zum gesamtgesellschaftlichen Wohlergehen beitragen. Verantwortungsvoll eingesetzte Digitalisierung kann helfen, diesen Weg zu ebnen.

Lösungsweg 3: Transformation des Bildungssystems

Kitas, Schulen und Aus- und Weiterbildungseinrichtungen gestalten die Gesellschaften von morgen und sind als Institutionen immer auch Vorbild. Die Mitarbeitenden können durch ihr didaktisches Know- how den Grundstein für ein neues Verständnis von Inklusion und Vielfalt legen und Selbstwirksamkeit, Demokratie, Verantwortung und Respekt vermitteln. Dies muss durch vielfältige Maßnahmen unterstützt werden: von personalisierten Lernplänen über die gezielte Förderung von Talenten und Kreativität bis hin zu neuen Lernformaten. Schüler*innen partizipativ einzubinden und ihnen einen ganzheitlichen sowie fächerübergreifenden Zugang zum Thema Nachhaltigkeit zu ermöglichen, schafft die Basis, um Zukunftswissen zu vermitteln.

Darüber hinaus gilt es, ganz neue, mutige Zukunftsbilder zu entwickeln, die das Streben nach Chancengleichheit und Selbstwirksamkeit auf alle benachteiligten Menschen ausweiten. Denn in der Vielfalt steckt eine große Chance für die Gesellschaft.

Ernährungswende

Unser aktuelles Ernährungssystem ist weder gut für den Planeten noch für unsere Gesundheit. Die intensive landwirtschaftliche Produktion greift massiv in unsere unmittelbare Umwelt und die anderer Weltregionen ein. Rund ein Drittel der globalen Treibhausgasemissionen wird durch das Ernährungssystem verursacht. Unsere Ernährung ist aber nicht nur Treiber des Klimawandels, sie ist auch besonders von dessen Folgen betroffen: Extremwetterereignisse wie Stürme, Überschwemmungen und anhaltende Dürren verringern bereits jetzt die Ernteerträge und gefährden die Ernährungssicherheit.

Gleichzeitig führt der heute vorherrschende sogenannte westliche Ernährungsstil – geprägt durch viel Fett und Zucker, hochverarbeitete Lebensmittel und viel Fleisch – zu immer mehr ernährungsbedingten Krankheiten. Gerade für Armutsbetroffene ist es weitaus schwieriger, sich gesund zu ernähren, als zu ungesunden Varianten zu greifen. Die Folge: Etwa drei Millionen Menschen sind hierzulande von Ernährungsarmut betroffen.

Lösungsweg 1: Nachhaltige Anbausysteme

Eine zukunftsfähige Landwirtschaft muss in Kreisläufen funktionieren, anstatt Böden und Ressourcen auszuzehren. Dazu muss der Anteil regenerativer Landwirtschaft, die darauf abzielt, Böden, Wasser und Biodiversität zu schonen und zu erhalten, erhöht werden. Gleichzeitig müssen intensivere Formen der Landwirtschaft nachhaltiger werden. Zentral ist hier die Verringerung von Düngemittel- und Pestizideinsatz etwa durch den Einsatz moderner agrartechnologischer Methoden – beispielsweise durch Agrarrobotik, die eine präzisere und umweltschonende Bewirtschaftung der Felder ermöglicht.

Bisher werden Landwirt*innen für eine umweltschonende Bewirtschaftung zu wenig honoriert, wodurch diese Arbeitsweisen häufig nicht wirtschaftlich genug sind. Die Förderbedingungen im Rahmen der europäischen Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) müssen daher grundlegend überarbeitet werden. Öffentliche Gelder sollten gezielt für die Sicherung öffentlicher Güter und Leistungen bereitgestellt werden, insbesondere für den Schutz von Böden, Wasser und Artenvielfalt.

Lösungsweg 2: Eine effiziente Flächennutzung

Die landwirtschaftlich nutzbare Fläche ist begrenzt und die Konkurrenz um diese nimmt durch einen zunehmenden Bedarf an Siedlungsfläche, Biomasseanbau und Naturschutz zu. In Deutschland reichen die landwirtschaftlichen Flächen schon jetzt nicht aus, um die heimische Nahrungsmittelnachfrage zu decken.

Eine wachsende Weltbevölkerung kann nur ernährt werden, wenn die vorhandenen Flächen effizienter genutzt werden. Wir müssen daher unsere Agrarflächen nachhaltiger, effizienter und sinnvoller nutzen. 60 Prozent der Anbauflächen in Deutschland werden aktuell für den Anbau von Futtermitteln genutzt. Dieser Anteil muss reduziert werden. Daneben können technologische Maßnahmen wie Vertical Farming zu einer effizienteren Nutzung der knapper werdenden Flächen sorgen. Gleichzeitig werden Flächen und Ressourcen durch die aktuell viel zu hohe Lebensmittelverschwendung unnötig in Anspruch genommen. Eine weitere wichtige Maßnahme ist daher die Reduzierung von Lebensmittelabfällen entlang der gesamten Wertschöpfungskette.

Lösungsweg 3: Nachhaltige Ernährungskultur

Die Forschung ist sich einig: Ernährungsstile mit einem hohen Anteil pflanzlicher Lebensmittel wie Hülsenfrüchte, Obst, Gemüse und Vollkornprodukten sowie einem eher geringeren Anteil tierischer Produkte schonen nicht nur die Umwelt, sie sind gleichzeitig gesünder. Ein Trend in diese Richtung ist mittlerweile deutlich zu erkennen. Trotzdem wird es Konsument*innen im Alltag noch zu schwer gemacht, ihre Ernährungsgewohnheiten umzustellen. Die Gründe hierfür sind vielfältig: Ungesunde, industriell hochverarbeitete Produkte sind durch Werbung, Marketing und Verpackung oftmals überrepräsentiert. Nachhaltige Kaufentscheidungen am Supermarktregal sind aufgrund der Informationsvielfalt auf den ersten Blick häufig komplizierter und aufwändiger. Gesunde Nahrungsmittel sind zudem meist teurer. Gesunde Ernährung sollte aber weder von der Bildung noch vom Einkommen abhängen.

Die Rahmenbedingungen sollten so gestaltet werden, dass sie automatisch einen nachhaltigen Ernährungsstil unterstützen. Hierfür gibt es zahlreiche Stellschrauben: Die Überarbeitung des Mehrwertsteuersystems durch eine geringere Besteuerung von pflanzlichen Produkten oder eine bessere Visualisierung von nachhaltigen Produkten statt dem heutigen Label-Dschungel. Da immer mehr Menschen ihre Mahlzeiten nicht mehr zu Hause zubereiten und zu sich nehmen, ist ein zentraler Hebel auch die Außer-Haus-Verpflegung und Gemeinschaftsverpflegung. Insbesondere Kantinen und Mensen können durch ein entsprechendes Angebot nachhaltige Ernährungsmuster fördern. Eine beitragsfreie, hochwertige Schulverpflegung kann zudem zu mehr Chancengleichheit für Kinder beitragen.

Energiewende

Eine Zukunft, in der es Energie risikofreier, generationengerecht, versorgungssicher, bezahlbar und nahezu vollständig CO2-frei für alle gibt, ist möglich. Dazu bedarf es keiner Deindustrialisierung, denn wir wissen heute sehr gut, wie die zentralen industriellen Prozesse klimaverträglich gestaltet werden können.

Allerdings war die Transformation des Energiesystems schon immer von Mythen begleitet. Ein hartnäckiger Mythos ist, dass für Versorgungssicherheit das Stromangebot durch große zentrale Kraftwerke bereitgestellt werden muss. Nationale wie weltweite Analysen zeigen das Gegenteil. In zahlreichen Kommunen und Regionen ist eine andere Art der Energieversorgung längst etablierte Praxis. Entscheidend dafür ist der Ausbau erneuerbarer Energien, die intelligente informationstechnische Verknüpfung der Erzeugungspunkte sowie die Bereitstellung von Flexibilitätsoptionen wie Speicher und Lastmanagement. Auch der Ausbau der Bürgerenergie vor Ort muss zur Stärkung der Akzeptanz und für den beschleunigten Kapazitätsausbau unterstützt werden.

Hinzu kommen muss ein deutlich konsequenteres Vermeiden unnötigen Energieverbrauchs durch Effizienz- und Suffizienzmaßnahmen. Wenn Energieeffizienz eine höhere Priorität eingeräumt wird, gelingt der Umbau leichter.

Ein derartiges Energiesystem klingt zwar heute noch utopisch, ist aber möglich und gesamtwirtschaftlich attraktiv. Die Basis dafür wurde längst gelegt: Der Atomausstieg, der Beschluss, die Förderung von Kohle vorzeitig zu beenden und das im Klimaschutzgesetz verankerte Ziel für eine Treibhausgasneutralität 2045 sind Meilensteine in der Energiewende sowie Auftrag und Vermächtnis für die Zukunft zugleich. Heute besteht ein energiewissenschaftlicher Konsens: Deutschland kann im Jahr 2045 ohne Kernenergie, ohne Kohle, ohne Öl und weitgehend auch ohne Erdgas auskommen.

Entscheidend dafür ist: In der Umsetzung der zentralen Strategien müssen wir schneller werden. Zwischen 1990 und 2023 konnten die Treibhausgasemissonen in Deutschland zwar um rund 46% gesenkt werden, was international ein Spitzenwert ist, für das Ziel Deutschlands, bis 2045 treibhausgasneutral werden zu wollen, ist die Minderungsgeschwindigkeit aber deutlich zu gering.

Ohne einen mutigen Politik-Mix mit Lenkungswirkung und sozialer Flankierung wird der Strukturwandel hin zur Klimaneutralität im Energiesystem nicht möglich sein. Zudem braucht es konsequentes Handeln gegen Widerstände, wo überkommene Privilegien und umweltschädliche Subventionen abgebaut werden müssen. Schließlich braucht es eine Politik, die durch Kontinuität Planungssicherheit schafft, die gerade im Energiebereich besonders wichtig ist.

Notwendig für eine erfolgreiche Energiewende ist ein Strategiemix aus Effizienz, Suffizienz und Konsistenz (erneuerbare Energien).

Lösungsweg 1: Energieeffizienz zuerst

Das international anerkannte Prinzip „Energy Efficiency First“ bedeutet, der Vermeidung von Energieverbrauch Vorrang vor mehr Energieangebot einzuräumen – wo immer das möglich und vorteilhaft ist. Konsequent angewendet kann dadurch eine Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Energienachfrage erreicht werden.

Je mehr Energie und Material ohne Einbuße von Lebensqualität eingespart wird, desto schneller, kostengünstiger, umweltverträglicher und gesellschaftlich akzeptierter lässt sich eine hundertprozentige Versorgung mit erneuerbaren Energien erreichen.

Energieeffizienz ist in allen Sektoren wichtig, vor allem in Bezug auf den Stromverbrauch, der in den nächsten Jahren durch den Wechsel von fossilen Brennstoffen auf Strom erhöht wird. Konzepte und Vorschläge, wie die Steigerung der Energieeffizienz gelingen kann, sind zahlreich vorhanden. Bei Haushaltsgeräten lässt sich durch Verbrauchsstandards – wie sie in Europa durch die Ökodesign- Richtlinie vorgegeben werden – der Stromverbrauch reduzieren. Auf der Wärmeseite lässt sich eine Einsparung zum Beispiel erreichen, wenn es gelingt, die jährliche energetische Sanierungsquote im Gebäudebestand von heute unter einem Prozent auf zwei bis drei Prozent anzuheben, zuvorderst bei öffentlichen Gebäuden. Zusätzlichen Nutzen bringt die Umstellung auf industrielle Abwärme oder eine Förderung von Mindestenergiestandards bei Gebäuden. Beratung und Unterstützung aus einer Hand durch sogenannte One-Stop-Shops können die energetische Sanierung, die Planung, den Prozess und die Umsetzung deutlich erleichtern.

Lösungsweg 2: Erneuerbare Energien natur- und sozialverträglich ausbauen

Die Ausbaugeschwindigkeit der erneuerbaren Energien, vor allem die Stromerzeugung aus Wind und Sonne, muss schon bis 2030 deutlich erhöht werden: Die jährlich neu installierte Kapazität an erneuerbarer Stromerzeugung muss sich gegenüber den Zubauraten zu Beginn des Jahrzehnts

mindestens verdreifachen und der Ausbau auf diesem Niveau bis 2045 fortgesetzt werden. Dazu kommen Investitionen in die Infrastruktur von Netzen, Speichern und anderen Flexibilitätsoptionen.

Dieser Ausbau bedeutet eine enorme finanzielle Kraftanstrengung. Er wird nur mit Hilfe der Mobilisierung von privaten Kapital gelingen, muss aber mit öffentlichen Mitteln unterstützt werden.

Dies wird nur gelingen, wenn sich die Menschen in der Entwicklung mitgenommen fühlen. Für die Energiewende braucht es daher nicht nur technische Lösungen, sondern ein überzeugendes Zukunftsnarrativ und eine soziale Flankierung. Über begleitende Kommunikationskampagnen muss Transparenz darüber hergestellt werden, warum bestimmte Maßnahmen unvermeidbar sind. Die Energiewende tritt mit der Wärme- und Verkehrswende in eine neue Phase, in der Millionen von Haushalten viel unmittelbarer betroffen sind als bei der Stromwende. Die Erfahrungen mit dem Gebäudeenergiegesetz haben gezeigt, wo die Fallstricke liegen. Die dort gemachten Fehler dürfen sich nicht wiederholen: Erst ausführlich Sinn und Vorteile erklären, dann ordnungsrechtliche Vorgaben im Verbund mit einem sozialverträglich Fördersystem umsetzen muss zukünftig die politische Leitlinie sein.

Lösungsweg 3: Suffiziente Lebensstile fördern

Studien zeigen: Reboundeffekte machen Effizienzsteigerungen wieder zunichte, wenn nicht gegengesteuert wird. Deshalb brauchen die technikorientierten Effizienz- und Konsistenzstrategien einen dritten Pfeiler, die Suffizienzstrategie. Die Politik muss mit entsprechenden Instrumenten energiesparende Verhaltensweisen fördern und Energieverschwendung begrenzen. Bei der Verkehrswende ist dies längst anerkannt: Verkehrsvermeidung und -verlagerung gehören zu den Suffizienzstrategien, auch wenn sie noch nicht mit der notwendigen Breite umgesetzt werden.

Bei Suffizienzpolitik geht es um weit mehr als um Appelle an individuelle Verhaltensänderungen. Politische Rahmenbedingungen müssen ermöglichen und fördern, dass sich nicht nachhaltige Produktions- und Lebensstile gesellschaftlich verändern. Es bedarf einer Förderung von Maßhalten und Entmutigung von Maßlosigkeit. Etwa, indem die Politik das Parken in den Innenstädten weniger attraktiv macht, dafür aber für den Ausbau eines attraktiven ÖPNV sorgt und den Menschen so die Möglichkeit gibt, ihr Auto stehen zu lassen. Erst dann wird sich das Mobilitätsverhalten der Menschen ändern und nachhaltigere Verhaltensmuster und neue Ökoroutinen durchsetzen. Der Versuch, individuelle Verhaltensänderungen durch staatlichen oder moralischen Druck erreichen zu wollen, ohne dass wirkliche Alternativen da sind, die sich alle Menschen leisten können, ist erkennbar ungerecht und wird daher scheitern.

Wirtschaftlicher Systemwandel

Wirtschaft ist kein Selbstzweck. Sinn und Zweck des Wirtschaftens sollten die Schaffung von Wohlergehen und die gesellschaftliche Entwicklung sein. Dafür müssen Produktions- und Konsumstrukturen so gestaltet sein, dass genug für alle da ist –- und das innerhalb der planetaren Grenzen.

Natürliche Ressourcen sind zentral für unser Leben. Ohne natürliche Ressourcen und Dienstleistungen der Natur lässt sich kein menschliches Leben, keine moderne Wirtschaft, keine gesellschaftliche Aktivität denken. Rohstoffe sind dabei eine zentrale Grundlage. Die Gewinnung und Verwendung von Rohstoffen ist jedoch mit teilweise erheblichen Umweltbelastungen verbunden. Daher erfordert nachhaltiges Wirtschaften einen besonders sparsamen Umgang mit natürlichen Ressourcen.

Die Förderung der effizienten Nutzung von Rohstoffen war und ist ein zentraler Ansatz, um den Rohstoffverbrauch und damit verbundene Umweltbelastungen nicht grenzenlos steigen zu lassen und gleichzeitig die internationale Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. Aber dieser Ansatz der Effizienzsteigerung reicht alleine nicht aus. Wir brauchen ein grundlegend anderes, stärkeres systemisches und zirkuläres Management der Materialströme.

Wir müssen wegkommen von der Einweg- und Wegwerfgesellschaft, der „linearen Ökonomie“: der Natur entnehmen, verarbeiten, nutzen und dann in die Natur zurückwerfen. Das Gegenmodell zu dieser „Wegwerfgesellschaft“ ist eine Kreislaufwirtschaft, auch zirkuläre Wirtschaft genannt. Ihr zentrales Prinzip ist es, möglichst wenige Rohstoffe zu nutzen und diese Rohstoffe möglichst lange in der Nutzung zu halten („im Kreis zu führen“), um der Natur weniger neue Rohstoffe entnehmen zu müssen. Dies lässt sich mit vielen, heute schon ansatzweise genutzten Strategien erreichen – darunter Wiederverwenden, Teilen, Reparieren oder Rezyklieren und ein maßvolles Leben.

Hierfür brauchen wir eine Wirtschaft, die die engen Grenzen der individuellen und kurzfristigen Profitmaximierung überwindet und dem Wohlergehen aller Menschen und der Natur dient. Die Wesensmerkmale dieser Form des Wirtschaftens: Sie ist kollaborativ, unternehmensübergreifend und zielt auf gerechten Wohlstand ab. Wir müssen uns von der antiquierten Form des „Rentenkapitalismus“ abwenden. Das ist ein Wirtschaftssystem, in dem besonders ressourcenreiche und mächtige Akteur*inne auf Kosten anderer Wirtschaftsakteur*innen und der Allgemeinheit ihre Privilegien verteidigen, sich privat natürliche Ressourcen aneignen und Nutzen daraus ziehen, während die Allgemeinheit einen Großteil der Lasten trägt.

Der Umstieg auf zirkuläres Wirtschaften braucht die richtigen ökonomischen Anreize: Umweltkosten müssen vollständig internalisiert werden, um die Trennung zwischen Nutzen und Lasten aufzuheben. Höhere Abgaben auf Primärrohstoffe, Vorrang und höhere Standards für Umweltschutz könnten mit einer Begrenzung der Entnahme kombiniert werden, wodurch Sekundärrohstoffe und -produkte konkurrenzfähiger werden. Produkte müssen so gestaltet werden, dass sie reparierbar und rezyklierbar werden und möglichst viele (besonders knappe) Rohstoffe durch mechanisches bzw. chemisches Recycling wiedergewonnen und weiterverarbeitet werden können. Es muss sich wieder lohnen, gemeinwohlorientiert statt nur profitorientiert zu handeln.

Wir dürfen nicht den Blick dafür verlieren, dass für den Frieden und Zusammenhalt der Weltgemeinschaft nicht nur Deutschland, sondern alle Länder ein gesichertes Wohlstandsniveau halten bzw. erreichen müssen. Dies bedeutet, dass zumindest die Grundbedürfnisse abgedeckt werden, ein Leben in Würde für alle möglich wird und der übermäßige Ressourcenverbrauch vor allem im Globalen Norden zurückgeht. Ziele wie eine Halbierung des Primärrohstoffverbrauchs ohne Einbuße von Lebensqualität können eine Orientierung dafür geben, welcher Verbrauch für Umwelt und Gesellschaft auch langfristig tolerabel wäre – und eine Umsetzung ist mit den skizzierten Maßnahmen möglich. Dies bedeutet nicht, dass alle Menschen ihren Verbrauch halbieren müssen, sondern dass eine Minderheit der Menschheit ihre übermäßig hohen Verbräuche reduziert, damit für die große Mehrheit der Menschen ein Leben in Würde gesichert werden kann. Die Ermöglichung von suffizienten bzw. maßvollen Lebensstilen ist dafür ebenso zentral wie eine gerechte Verteilung von Lasten und Nutzen der notwendigen Transformationsprozesse.

Methodologie und Modellierung

Für Deutschland liegt eine große Vielzahl von Klimaschutzszenarien für den Zeitraum bis 2045/2050 mit einer differenzierten Untergliederung von Teilsektoren und technologischen Strategien innerhalb des Energiesystems vor. Diese Szenarien haben vorwiegend den Zweck, die Bundesregierung zur klimapolitischen Zielsetzung in Bezug auf verfügbare und korrespondierende Technologieoptionen sowie prinzipiell auch zum notwendigen energiepolitischen Politikmix zur Zielerreichung zu beraten. Nur wenige dieser Szenarien enthalten differenzierte wirtschaftliche Kosten-Nutzen-Analysen. Sie konzentrieren sich zudem auf Klimaschutz und Energiewende. Wechselwirkungen zu Fragen bezüglich Ungleichheit, Armut, Ernährung, Empowerment und Ressourcen können mit den meisten Modellansätzen nicht erfasst werden. Eine Ausnahme sind die sogenannten RESCUE-Szenarien des Umweltbundesamtes, die zumindest die Wechselwirkungen zwischen der Energiewende und Ressourcenfragen detaillierter untersucht haben.

Als Ergänzung zu diesen Szenarien setzt sich die Studie „Earth for All Deutschland“ intensiv mit Trade-offs, Zielkonflikten sowie Wechselwirkungen und Synergien auseinander. Eingesetzt wird das iSDG-Modell, das eine ganzheitliche Abbildung der fünf Wenden ermöglicht. Das iSDG-Modell ist in Bezug auf den Energiesektor zwar nicht so detailscharf gegliedert wie die deutschen Energie- und Klimaschutzszenarien. Auch mit Blick auf jede der anderen Wenden geht das Modell nicht in alle Details. Dafür liefert es einen umfassenden Überblick über die Auswirkungen und Wechselwirkungen einer sozialökologischen Transformation durch die Modellierung der kombinierten Umsetzung aller fünf Wenden. Auch wenn noch zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungsfragen beim Abgleich von iSDG und deutschen Modellierungen ausgebaut werden sollten, sind die Ergebnisse spannend und richtungssicher.

Das iSDG-Modell des Millennium Institute integriert 30 Sektoren: zehn im ökologischen, zehn im sozialen und zehn im wirtschaftlichen Bereich. Diese umfassen die Dynamik innerhalb jedes Sektors und zwischen den Sektoren. Sie sind in über 3.000 Variablen und Gleichungen erfasst. Dadurch deckt das Modell eine Vielzahl an Indikatoren ab, die für die Bewertung nachhaltiger Zukunftsszenarien relevant sind.

Das bereits aus dem Projekt „Betrachtung von SDG-Wechselwirkungen in Transformationspfaden“ vorliegende, auf Deutschland angepasste Baseline-Szenario beschreibt, wie sich Deutschland verändert, wenn keine ambitionierten Maßnahmen in der Umwelt- und Sozialpolitik vorgenommen werden, sondern nur zögerliche und unambitionierte Schritte. Das ist das Szenario „Too Little Too Late“. Im Rahmen dieses Buches wurden zwei weitere Szenarien mit dem iSDG-Modell gerechnet. Ein Szenario, das im Kapitel zur Energiewende zu tragen kommt, berücksichtigt die aktuelle Klimapolitik und rechnet weitestmöglich die existierenden Pläne der Regierung mit ein („Existing Plans“). Das dritte Szenario, der „Giant Leap“, untersucht die Auswirkungen, wenn gleichzeitig weitere ambitionierte Maßnahmen im Bereich Armut, Ungleichheit, Empowerment, Ernährung sowie Ressourcen unternommen werden. Daraus ergibt sich das Gesamtbild einer hoch ambitionierten Klima- und Nachhaltigkeitspolitik in Deutschland.

Zusätzlich wurden die Wenden mit dem Modell auch jeweils einzeln durchgerechnet, sodass wir beobachten können, was geschieht, wenn nur die Maßnahmen in dem jeweiligen Sektor angegangen werden, in den anderen Sektoren aber nichts geschieht.
Warum haben wir uns für diese Szenarien entschieden? Die Folgen des Klimawandels sind in vielen Büchern sehr eindrücklich dargestellt. In den vergangenen Jahren wurden bereits eine Vielzahl von Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels auf den Weg gebracht, die – sofern sie umgesetzt werden – einen großen Beitrag zur Minderung des Klimawandels leisten können. Dies kann aber nur ein Teil der Lösung sein. Essenziell ist, dass sie von Anfang an mit Finanz- und Sozialpolitik verzahnt werden. Leider passiert dies in der Realität bisher zu wenig. Sehr oft werden Klima- und Sozialpolitik sogar gegeneinander ausgespielt – wir wollten daher wissen, inwiefern sich beide Politikfelder wechselseitig begünstigen oder gegebenenfalls auch hemmen. Daher haben wir in dem Szenario “Existing Plans” nur mit den derzeit geplanten Klimaschutzmaßnahmen gerechnet und sie in dem ambitionierteren Szenario “Giant Leap” mit vielen weiteren Maßnahmen vor allem aus dem Finanz- und Sozialbereich flankiert. Die Ergebnisse sind eindeutig und zeigen, wie unerlässlich eine Verbindung von ökologischen und sozialen Maßnahmen ist.