Earth4All

Peter Hennicke, Till Kellerhoff, Oliver Wagner

Am 23. Februar 2025 finden in Deutschland die Bundestagswahlen statt. Positive Zukunftsentwürfe und grundlegende systemische Veränderungen, die notwendig wären, um der sich überlappenden ökologischen, ökonomischen und sozialen Krisen beizukommen, spielen in Wahlprogrammen eine marginale Rolle – die Regierungs- und Oppositionspolitiker und der mediale Schlagabtausch konzentrieren sich auf monothematische Polarisierungen. Weder werden in ausreichendem Maße tragfähige (Finanzierungs-)Konzepte zur Lösung akuter Probleme (z.B.: Bildung für alle, gerechte Mobilität, bezahlbarer Wohnraum, Erneuerung der maroden Infrastruktur, Altern in Würde) präsentiert, noch wird den Menschen vermittelt, dass und wie alle gewinnen können durch aktiven Klima-und Ressourcenschutz und eine sozial-ökologische Transformation. In diese Situation hinein erschien Ende 2024 das Buch „Earth4All Deutschland“ vom Club of Rome und Wuppertal Institut, das diesem Utopieverlust eine positive und wissenschaftlich fundierte Vision entgegenstellt.

Unbestritten ist: Die derzeitige Art zu wirtschaften hat zu einem erhöhten durchschnittlichen Wohlstandsniveau in Deutschland geführt. Der Preis dafür drückt sich allerdings neben einem enormen Natur- und Ressourcenverbrauch auch in einer zunehmend ungleichen Verteilung von Vermögen und gesellschaftlicher Teilhabe aus. Die öffentlichen Infrastrukturen wurden vernachlässigt und der soziale Zusammenhalt löst sich in rasender Geschwindigkeit auf. Die erzielten ökologischen Erfolge (z.B. beim Ausbau erneuerbarer Stromerzeugung) dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass Deutschland gemessen am ökologischen Fußabdruck deutlich über seine Verhältnisse lebt. Nach wie vor überwiegen nicht nachhaltige Produktions- und Konsumweisen. Superreiche tragen dazu mit extremem ökologischem Fußabdruck bei und leisten trotz starker Schultern einen höchst bescheidenen Beitrag zur Problemlösung. Dabei ist längst klar, dass wir das Fundament unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung von Grund auf erneuern müssen, wenn wir die gesellschaftlichen Errungenschaften des fossilen Zeitalters und unsere freiheitlich-demokratische Lebensweise bewahren wollen.

Statt mutige Veränderungen weiter voranzutreiben, wird aber weder von der Politik noch von der Wirtschaft dem rückwärts gewandtem Populismus wirksam widersprochen: Schon erreichtes wird hinterfragt, Klimaschutzziele aufgeweicht, rhetorisch gegen Klimaschutzmaßnahmen polarisert und polemisiert.

Besonders kontraproduktiv ist, die gesellschaftlich gewachsene Bereitschaft zu ambitionierterem Klimaschutz wieder abzubremsen wie es nicht geringe Teile aus dem politischen Spektrum versuchen. Die AfD plädiert sogar für den blanken wirtschaftlichen wie ökologischen Irrsinn einer Refossilisierung und Renuklearisierung der Wirtschaft durch Kohle-und Atomstrom.

Das langfristige Ziel von Earth4All ist dagegen ein neues Wirtschaftsparadigma, das Wohlstand für alle Menschen – eine Wohlergehensgesellschaft – innerhalb der planetaren Grenzen ermöglicht. Earth4All identifiziert dafür politische Maßnahmen, die das Potenzial haben, die Polykrisen unserer Zeit gleichzeitig zu adressieren und durch integrative Ansätze Synergien zu erschließen. Fünf Kehrtwenden und entsprechende politische Maßnahmen stehen dabei im Zentrum: Die Armutskehrtwende, die Ungleichheitskehrtwende, die Ernährungskehrtwende, die Energiekehrtwende.

Mit einem mutigen Giant Leap lässt sich eine weitere Zuspitzung der aktuellen Polykrise begrenzen. Es ist möglich, Deutschland zukunftsfest und lebenswert für alle zu gestalten.

Und das Ermutigende dabei ist: Wie Umfragen von Earth4All zeigen, treffen die vorgeschlagenen Maßnahmen prinzipiell auf Zustimmung in der deutschen Gesellschaft: 66 % der Deutschen sind der Meinung, dass die Welt in den nächsten zehn Jahren in allen Wirtschaftssektoren (Stromerzeugung, Verkehr, Gebäude, Industrie, Ernährung) drastische Maßnahmen ergreifen muss. Die Mehrheit ist der Meinung, dass wohlhabende Menschen höhere Steuern zahlen sollten (71 %). 75 % sind der Meinung, dass die Regierung eine kostenlose Gesundheitsversorgung sicherstellen sollte. 71 % halten die Stärkung der Arbeitnehmerrechte für wichtig.

Die Zahlen zeigen allerdings auch: Die Zustimmung zu der Aussage, dass „die Bekämpfung des Klimawandels und globaler Umweltschäden den Menschen Vorteile bringt“, in Deutschland eine erstaunlich geringe Zustimmungsrate von 54 Prozent hat und damit den drittletzten Rang innerhalb der G20-Länder einnimmt. Das bedarf der Erklärung, denn die »vielen Vorteile« können sehr unterschiedlich sein: Ambitionierterer globaler Klimaschutz wird z.B. in Indien tausendfaches Massensterben durch Hitzetod verhindern, weil bei unveränderten Trends mit einer weltweiten Heißzeit mit Werten über 50 Grad Außentemperatur zu rechnen ist; ab 42 Grad droht ungeschützt akute Lebensgefahr. Das erklärt die hohen Zustimmungswerte von 73 Prozent. In Deutschland kann ein umfassender Klimaschutz zwar auch dafür sorgen, dass tödliche Starkregenereignisse wie im Ahrtal im Juli 2021 nicht zur Regel werden. Aber im Vergleich zu den Tragödien, die bei ungebremstem Klimawandel in Afrika, Asien und Südamerika auf die Menschen zukommen, sind das relativ weniger katastrophale Auswirkungen. Aber das reicht als Erklärung nicht aus: Könnte es sein, dass den Durchschnittsbürger*innen die enormen wirtschaftlichen und sozialen Vorteile des Klimaschutzes gerade für Deutschland noch viel zu wenig vermittelt wurden, so dass viele die notwendigen Klimaschutzmaßnahmen noch eher als Bedrohung empfinden und deshalb zu einer ambivalenten Bewertung kommen? Kann es sein, dass die ökonomischen und (auch) kreditfinanzierten Klimaschutzprogramme deswegen skeptisch gesehen werden, weil nicht erklärt wurde, dass es natürlich hinsichtlich der Kosten nicht beim Status Quo bleibt, sondern dass es künftig zu höheren ökonomischen Schäden und noch höheren Anpassungskosten führt, wenn wir heute nicht massiv in den Klimaschutz investieren? Viel spricht für diese Hypothese.

Tatsache ist: Das positive Gegen-Narrativ, sozialer Gewinn, mehr Sicherheit und mehr Gerechtigkeit durch Klimaschutz im Gegensatz zu exorbitante Schäden, wachsender Ungleichheit und Ungerechtigkeit durch unterlassenen Klimaschutz, wurde bisher in Deutschland viel zu wenig öffentlich verbreitet. Denn die Annahme, dass so etwas wie „Business as Usual“ möglich wäre, ist eine Illusion – schon rein ökonomisch wird auch Deutschlands Wohlstand radikal sinken, wenn wir nicht in der Lage sind, den Klimawandel so weit wie möglich zu begrenzen:

Das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung berechnet, dass die Weltwirtschaft bis 2050 19 % Einkommensverlust durch den unumkehrbaren Klimawandel erleiden wird. Diese Schäden, verursacht durch Emissionen der letzten 40 Jahre, sind sechsmal höher als die Kosten für eine 2°C-Strategie. Wird nicht viel ambitionierter als bisher dagegen gesteuert, steigern sich die Kosten bis zur Weltwirtschaftskatastrophe.

Earth4All Deutschland zeigt dagegen: Radikale und gemeinsame Kehrtwenden in Deutschland können zu einem enormen Gewinn an Lebensqualität für alle führen – zu einer Wohlergehensgesellschaft. Allerdings nur, wenn ein Giant Leap erfolgt, also ein großer gesellschaftspolitischer Wurf gelingt. Es ist nach der Analyse von Earth4All Deutschland viel besser, die Gesellschaft gemeinsam zu verändern und eine Vision davon zu entwickeln, wie wir in Zukunft leben wollen, als dass die Verhältnisse uns allen katastrophale Veränderungen aufzwingen.

Es geht daher nicht nur um die „Abwendung der Apokalypse“ – es geht darum, „endlich unserer Kraft zu trauen und ein schöneres Leben aufzubauen“, wie Berthold Brecht es formulierte.

Daher gilt es, eine positive Zukunftsvision zu entwickeln, die der Dystopie entgegensteht. Dies folgenden Grundpfeiler sind dafür unserer Meinung nach essenziell:

  • Ein schneller Wandel zum Positiven ist möglich: Die im Zuge der Industrialisierung etablierten fossilen und ressourcenverbrauchenden Strukturen lassen sich in den nächsten 25 Jahre in eine klimaneutrale und deutlich stärker auf Kreislaufwirtschaft fußende Gesellschaft überführen.
  • Grenzenloses Wirtschaftswachstum auf einem begrenzten Planeten ist unmöglich – und schon deshalb kein Maßstab für Lebensqualität und Gutes Leben. Das Ziel ist: Wohlergehen für alle innerhalb der planetaren Grenzen.3
  • Alle Bereiche gleichzeitig zu transformieren ist einfacher als jeden einzeln: Es ist effektiver, kostengünstiger und erfolgversprechender, wenn die Kehrtwenden gemeinsam und zügig umgesetzt werden. Durch Politikintegration statt Silodenken lassen sich große Synergieeffekte heben.
  • Eine ökologische Transformation ohne Abbau der sozialen Ungleichheit wird scheitern. Der Schutz des Klimas und der Ökosysteme findet nur dann gesellschaftliche Akzeptanz, wenn gleichzeitig eine deutliche Reduzierung von Ungleichheit und Armutsbekämpfung angegangen wird. Eine gerechte Steuer- und Sozialpolitik ist Voraussetzung für einen Giant Leap.
  • Technik allein ist nicht die Lösung für alle Herausforderungen: Effizienzsteigerung und der Ausbau erneuerbarer Energien sind zentrale Strategien. Es bedarf aber ergänzend auch maßvoller Lebensstile (Suffizienz) mit weniger Luxuskonsum und eines sparsameren Umgangs mit Ressourcen und Flächen. Solche Veränderungen brauchen eine Ermöglichungskultur, die suffizientes Verhalten fördert, aber Maßlosigkeit und Überkonsum entmutigt.
  • Transformationsprozesse gelingen am besten durch ein kraftvolles Gemeinschaftswerk. Eine starke Demokratie und faire Aushandlungsprozesse sowie Selbstwirksamkeit (Empowerment), insbesondere von Frauen und Jugendlichen, deren Rechte und Bedürfnisse noch zu wenig Gehör finden stellen die Basis erfolgreicher Veränderungsprozesse dar. Partizipative Elemente, wie , Bürger*innenräten und eine demokratisierte Wirtschaft helfen, gesellschaftliche Gräben zu schließen.
  • Es braucht mutige Zukunftsinvestitionen: Ein konsequenter Abbau umwelt- und klimaschädlicher Subventionen, ein angemessener Beitrag der Reichen und eine Anpassung der Schuldenbremse schaffen dafür die Basis, verbessern soziale Gerechtigkeit und reduzieren zukünftige Schadens- und Anpassungskosten.
  • Deutschland hat mehr Verantwortung: Als führende Industrienation kann Deutschland mutige Schritte vorangehen, bereits bestehende Ansatzpunkte für global positive Veränderungen verstärken. Wenn Deutschland erfolgreich seiner globalen Vor- und Leitbildfunktion gerecht wird, schafft es die Grundlage für eine globale Wohlergehensgesellschaft.

Ein solcher „Giant Leap“ ist weit mehr Chance als Pflicht, denn er sichert Wohlergehen, Gesundheit, Sicherheit und Demokratie. Er festigt und stärkt Zivilgesellschaft, mit Gewerkschaften, die die Rechte von Arbeitnehmerinnen kraftvoll vertreten können, mit Unternehmerinnen, die gesellschaftliche Verantwortung übernehmen und mit Politiker*innen, die mutig eine gute Zukunft gestalten wollen. Zukünftige Möglichkeitsräume gerade auch in Krisenzeiten mit wissenschaftlichen Methoden zu eröffnen, ist Aufgabe von Wissenschaft. Das Mögliche tatsächlich umsetzen, müssen wir alle.

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